Der verklärte Austritt

Opinion piece (Republik)
Christian Odendahl
12 March 2019

Theresa May steht vor einem politischen Scherben­haufen. Der Brexit-Deal, den die britische Premier­ministerin nach vielen Monaten mit der EU ausgehandelt hat, wird im Parlament, wenn überhaupt, nur eine erzwungene Mehrheit finden. Verschoben wird der EU-Austritt sowieso – auf Mai, auf Juni oder vielleicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.

Denn: Niemand will den Brexit, den Theresa May anstrebt. Dies wurde in den vergangenen Wochen immer offensichtlicher:

  • die Remainer nicht, die sowieso lieber in der Europäischen Union geblieben wären und nun der EU zumindest so nah wie möglich bleiben würden;
  • die Brexiteers nicht, weil die Grenzfrage in Irland die Briten für ihren Geschmack zu nah an die EU zwingt;
  • die weniger interessierte Bevölkerung nicht, weil es beim Brexit statt um die wirklichen Probleme des Landes nur noch um Partei­politik geht;
  • und die Experten nicht, weil der Scheidungs­vertrag kaum eine Frage zum Verhältnis zur EU wirklich klärt, sondern die Beantwortung dieser Fragen nur in die Zukunft verschiebt.

Viele Kommentatoren haben sich deshalb auf May eingeschossen und kritisieren ihre Fehler – in der Verhandlung, im Erwartungsmanagement.

Tatsächlich trifft die Premier­ministerin eine Mitschuld. Sie spielt ein zynisches politisches Spiel. Statt einen Konflikt um konkrete Positionen auszutragen und diesen Konflikt damit zu lösen (oder es zumindest zu versuchen), spielt sie die Uhr herunter, um das Parlament am Ende vor die Wahl zu stellen: das Land ohne irgendeine Vereinbarung aus der EU fallen zu lassen, ein erneutes Referendum zu riskieren oder aber ihrem Deal zuzustimmen. Es ist eine inhaltsleere Politik der Erpressung.

So unvorteilhaft Mrs May agiert, so klar ist jedoch auch, dass die Wirren um den Brexit nicht allein durch ihr Verhalten bedingt sind. Nein: Dass die Briten nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht, hat einen anderen Grund.

Und zwar einen sehr simplen: Der Brexit ist schlicht ein unlösbares Problem. In ihm steckt ein Grund­widerspruch, der sich nicht auflösen lässt: jener zwischen nationaler Souveränität und internationaler Zusammenarbeit.

Die neue Handelswelt

Kleine und mittelgrosse Länder – und dazu zählen Gross­britannien, die Schweiz, aber auch alle anderen europäischen Länder für sich allein betrachtet – können nur dann vertieft zusammenarbeiten, wenn sie bereit sind, Souveränität zu teilen. Wer wie die Brexiteers dagegen mehr nationale Autonomie möchte, muss Abstriche bei der Zusammen­arbeit machen.

Den britischen Wählern wurde aber beim Referendum vorgegaukelt, ihr Land könnte autonom und unabhängig sein und trotzdem sämtliche Vorteile der vertieften internationalen Zusammen­arbeit behalten, an die es sich im Lauf der Jahre gewöhnt hatte. Wie in den vergangenen zwei Jahren – und für Experten wenig überraschend – deutlich wurde, ist das Unfug.

Dass die Brexiteers dies nicht realisierten, ist kein Zufall. Viele von ihnen leben politisch (und teilweise im Habitus) im Gestern; sie sind grosse Fans von historischen Vergleichen (die allerdings meist in die Hose gehen). Die Hemmnisse, die den Handel in dieser Welt von früher einschränkten, waren einfach und überblickbar: Zölle, Subventionen und geschlossene Märkte.

Im handelspolitischen Denken des 20. Jahrhunderts ist auch der Brexit ein lösbares Problem. Denn an Zöllen hat eigentlich niemand in Europa ein Interesse – die Europäische Union will ja grundsätzlich Handel mit Gross­britannien treiben. Freihandel von beiden Seiten, fertig ist der Brexit.

Doch die Handelswelt des 21. Jahrhunderts ist eine völlig andere. Die Handels­hemmnisse, über die heutzutage verhandelt werden muss, sind zum grössten Teil «nicht-tarifär». Das bedeutet: Zölle sind mit Ausnahme weniger Branchen nicht das Problem. Vielmehr sind es Fragen der Regulierung – etwa zu Sicherheits- und Hygiene­standards, zum Daten­schutz, zum Zugang zu öffentlichen Aufträgen und zu regulierten Märkten wie dem Gesundheits- und dem Kultur­wesen oder den Finanzmärkten.

Die Debatte um das europäisch-amerikanische Handels­abkommen TTIP ist ein gutes Beispiel. Der springende Punkt daran waren nicht die vorgesehenen Zoll­senkungen, sondern die vertiefte regulatorische Zusammen­arbeit zwischen den USA und der EU.

Die Anti-TTIP-Proteste waren daher auch nicht auf den Freihandel per se fokussiert, sondern auf die Aushöhlung der Demokratie: Würden die beiden Partner künftig Regulierungen nur noch untereinander aushandeln, so ginge die demokratische Kontrolle verloren, argumentierten die Gegner. Das Abkommen scheiterte, da letztlich keiner der zwei Wirtschafts­räume bereit war, die Souveränität in Regulierungs­fragen zu teilen oder sie auf eine supranationale Ebene mit unabhängiger Gerichts­barkeit zu übertragen.

Das Scheitern von TTIP und anderen Abkommen zwischen den grossen Handels­blöcken macht darüber hinaus deutlich, wie die internationale Zusammen­arbeit aktuell strukturiert ist. Drei Akteure geben die Regulierungen der Welt­wirtschaft vor: die USA, die EU und China.

Wer mit diesen Akteuren Handel treiben will, muss sich anpassen.

Klein-Britannien

Die EU ist hierbei der Sonderfall. Denn sie ist anders als die USA und China kein einzelner Staat, sondern ein Zusammen­schluss vieler kleiner und mittelgrosser Länder. Es handelt sich um den bisher grössten Versuch in der Geschichte, nationale Gesetzgebungs­kompetenzen zugunsten einer vertieften internationalen Zusammen­arbeit abzugeben.

Machtpolitisch ist das Modell ein Erfolg. Denn durch den Zusammen­schluss können sich die europäischen Länder in der Welt behaupten und gemeinsam über wirtschaftliche Regulierungs­fragen entscheiden. Es ist kein Zufall, dass die EU in der Handels­politik eine Super­macht ist – genau in dieser Domäne arbeiten die EU-Staaten sehr stark zusammen. Bei der Aussen- und der Verteidigungs­politik ist die Europäische Union dagegen keine Super­macht; die Zusammenarbeit ist in dieser Domäne bestenfalls sporadisch.

Geteilte Souveränität ist also nicht verminderte Souveränität. Denn souverän ist ein Land im Endeffekt nur, wenn es seine Ziele erreicht, zum Beispiel bei der Regulierung von Sicherheits­standards, und dabei den Bürgerinnen und Bürgern ein Maximum an Wohlstand ermöglicht. Wer dies im Verbund mit anderen Staaten besser schafft als allein, ist im Verbund souveräner – auch wenn dabei die Entscheidungs­freiheit zunächst eingeschränkt scheint.

Das Vereinigte Königreich wird durch den Austritt aus der Europäischen Union deshalb nicht an Souveränität gewinnen. Aus wirtschaftlichen Gründen wird es weiterhin eng mit der EU zusammenarbeiten. Das aber wird bedeuten, dass sich Gross­britannien den EU-Regulierungen unterwirft – jedoch ohne Einfluss auf deren Gestaltung mehr nehmen zu können.

In Verhandlungen über Handels­abkommen mit China oder den USA wird London andererseits erleben, was man als mittelgrosses Land gegenüber einer Super­macht tatsächlich durchsetzen kann (Spoiler: Es ist herzlich wenig, wie die Schweiz in den Verhandlungen mit China gelernt hat).

Nach vollzogenem Brexit wird London in der europäischen Politik kaum mehr eine Rolle spielen. Für die EU ist es jetzt schon schwierig genug, die Positionen von 28 Mitglieds­ländern unter einen Hut zu bekommen. Die Spaltungen innerhalb der Union haben eher zu- als abgenommen – siehe die Eurokrise, die Flüchtlings­frage, Russland und Trump. Auf die Befindlichkeiten der ausgetretenen Briten werden die Regierungen der 27 verbliebenen Länder künftig kaum Rücksicht nehmen können.

Auch in der Weltpolitik wird der Einfluss schrumpfen. Gross­britannien war für wichtige Länder wie die USA der natürliche Brücken­kopf nach Europa. Wegen ihrer EU-Mitgliedschaft waren die Briten ein gefragter Partner. Auch hier verschätzen sich die Brexiteers komplett – und realisieren nicht, dass die Bedeutung ihres Landes auf der Welt­bühne ausserhalb der EU massiv leidet.

Am Ende der Illusionen

Der Brexit ist also ein unlösbares Problem. Und eine grosse Illusion.

Denn den Souveränitäts­gewinn, den er verspricht, gibt es nicht: Das Resultat des Ablösungs­prozesses wird im Gegenteil sein, dass Gross­britannien alle wichtigen EU-Regulierungen schlicht übernimmt. Dies, um den ökonomischen Schaden des Austritts so gering wie möglich zu halten.

Die Frage, welche Zugeständnisse London bei der Personen­freizügigkeit gegenüber der Europäischen Union wird machen müssen, kommt noch hinzu. All die Träume der Brexiteers von einer eigenständigen Steuerung der Zuwanderung werden sich in Luft auflösen. Vom take back control, das sie versprachen, wird am Ende der Verhandlungen wenig übrig bleiben.

Dies ehrlich zu thematisieren, wäre Theresa Mays Aufgabe gewesen. Doch stattdessen hat sie sich hinter hochtrabenden Floskeln und Phrasen von tautologischer Schönheit verschanzt («Brexit means Brexit»).

Und damit auch unfreiwillig einer weiteren Illusion Vorschub geleistet: dass es den nationalen, reinen, vorteilhaften Great Brexit gegeben hätte, wenn ihn nicht – je nach Ansicht – die EU-Staaten, die Remainer, Labour, Frankreich, Brüssel, die Deutschen, die BBC oder sogar May selbst verhindert hätte.

Dies wiederum wird eine bequeme Ausrede dazu sein, die wahren Probleme des Landes zu ignorieren – für jeden, der auch immer dereinst an der Macht sein wird. Von diesen Problemen gäbe es eigentlich genug:

  • Das Reallohn­wachstum befindet sich seit der Finanz­krise in einer Liga mit Italien.
  • Die regionale Ungleichheit ist enorm.
  • Es fehlt an Perspektiven bei der Aus- und Weiter­bildung für Personen mit mittleren Bildungsabschlüssen.
  • Die öffentlichen Investitionen sind nach drastischen Kürzungen der konservativen Regierungen am Boden.
  • Und der Mangel an Wohnraum in den erfolgreichen Regionen des Landes ist eklatant.

Diese Probleme haben mit der EU-Mitgliedschaft Gross­britanniens herzlich wenig zu tun. Im Gegenteil: Sie werden eher schwerer zu lösen, wenn durch eine schwächere Wirtschaft die Staats­kassen leerer sind. Schon jetzt ist das britische BIP um 2,3 Prozent kleiner, als es ohne das Brexit-Votum gewesen wäre – den Staat kostet dies geschätzte 320 Millionen Pfund pro Woche.

Der Brexit ist also nicht nur in seinem Kern unlösbar; er bindet auch die Kraft eines ganzen Landes, das in seinen besten Zeiten eine der wichtigsten Säulen des europäischen Projekts gewesen war.

Der Autor

Christian Odendahl ist Chef­ökonom des Centre for European Reform, eines «pro-europäischen, aber nicht unkritischen» Thinktanks. Zu seinen Spezial­gebieten zählen die Euro­zone, die Fiskal- und Geld­politik, die politische Ökonomie der Wirtschafts­integration sowie der Handel und die Regulierung.