Wer kommt besser durch die Corona-Krise, Europa oder die USA?

Opinion piece (Süddeutsche Zeitung)
John Springford , Simon Tilford
24 August 2020

Die Arbeitslosigkeit in den USA steigt wieder, nachdem viele US-Staaten vorzeitig die Restriktionen des öffentlichen Lebens zurück genommen hatten und es dadurch zu einem Anstieg der COVID-19-Infektionen kam. Der US-Kongress streitet darüber, ob die Arbeitslosenunterstützung weiterhin großzügiger ausfallen oder wieder auf amerikanisches Normalniveau gekürzt werden soll, was ärmere Amerikaner schwer treffen würde. In Europa nehmen die Infektionen zwar ebenfalls wieder zu, jedoch von einer niedrigeren Ausgangsbasis, und viele ArbeitnehmerInnen werden weiterhin durch Kurzarbeit und ähnliche Maßnahmen geschützt.

Ein Großteil der Schuld an Amerikas Umgang mit der Pandemie liegt bei Donald Trump, der den Corona Virus heruntergespielt hat, die GouverneurInnen der US-Staaten aufgefordert hat, die Restriktionen vorzeitig zu beenden (wodurch die BürgerInnen, wie er es ausdrückte, „befreit“ wurden), und der es versäumt hat, Tests und Kontaktverfolgung auszuweiten, um den Virus beherrschbar zu machen. Trump, Fox News und die rechts-konservative Bewegung in den USA haben COVID-19 zu einer Parteienfrage gemacht und die USA in die schlechtmöglichste Situation geführt: Die Wirtschaft ist wahrscheinlich wieder auf dem Weg in die Rezession und der Virus verbreitet sich weiter, ohne Aussicht auf Herdenimmunität. Eine große Anzahl von AmerikanerInnen wird infolge dieses Versagens der US-Regierung unnötig sterben, während viele andere langfristige gesundheitliche Schäden davontragen werden.

Viele EuropäerInnen glauben jedoch, dass ihr relativer Erfolg nicht nur durch eine bessere Führung erklärt wird, sondern auch durch das überlegene „europäische Modell“: also durch einen größeren Sozialstaat, die Zusammenarbeit von Unternehmen und Gewerkschaften, besseren Schutz von ArbeitnehmerInnen in Krisen und eine bessere öffentliche Infrastruktur und Daseinsfürsorge.

Auf den ersten Blick scheinen große, gut finanzierte Staaten ein besseres Sicherheitsnetz für betroffene ArbeitnehmerInnen und kranke Menschen geschaffen zu haben. Kurzarbeitsregelungen haben verhindert, dass die Arbeitslosigkeit stark steigt, während sie in den USA im März und April in die Höhe schoss.

Die Arbeitslosenrate in den USA ist jedoch irreführend. Viele ArbeitnehmerInnen, die als arbeitslos gelten, sind tatsächlich beurlaubt, und die vorübergehende Ausweitung des Arbeitslosengeldes, das beurlaubte ArbeitnehmerInnen erhalten, so eine Art amerikanische Kurzarbeitsregelung, hat zu einer großzügigen Einkommensunterstützung geführt.

Der erweiterte Zugang zur Gesundheitsversorgung verschaffte nicht versicherten AmerikanerInnen Zugang zu Tests und Behandlungen, und brachte die USA näher an die europäische Norm der universellen Deckung. Für COVID-19-Tests fallen keine Gebühren an, und die Bundesregierung in Washington zahlt für die Behandlung der Nichtversicherten (obwohl versicherte Amerikaner wie gewohnt mit hohen Zuzahlungen zurechtkommen müssen).

Doch es gibt sowohl kurz- als auch langfristige Risiken für die USA. Viele Staaten haben wieder Restriktionen eingeführt, da die Infektionen weiter zunehmen. Rund 1 Prozent dieser Fälle werden sterben, und weitere 4 bis 5 Prozent werden unter potenziell langfristigen Gesundheitsproblemen leiden. Erneute Schließungen und andere Restriktionen werden die verbesserten Beschäftigtenzahlen rückgängig machen, und ein vorzeitiges Ende der zusätzlichen Arbeitslosengelder würde zu einem starken Anstieg von Insolvenzen, Arbeitslosigkeit und Armut führen. Dies ist wahrscheinlicher in den USA als in Europa, wo ein größerer Konsens darüber besteht, dass die Regierung weitere Unterstützung gewährleisten muss, um so viele betroffene Unternehmen und Haushalte wie möglich zahlungsfähig zu halten.

Zudem war das US-amerikanische Gesundheitssystem bereits vor der Pandemie unzureichend und teuer. Die Lebenserwartung der AmerikanerInnen stagnierte, obwohl die Kosten in die Höhe geschossen waren. Wenn Überlebende von COVID-19, die unter langfristigen Gesundheitsproblemen leiden, keine größere finanzielle Unterstützung erhalten, werden viele mit steigenden Gesundheitskosten und einem sinkenden Lebensstandard konfrontiert werden.

Der US-Arbeitsmarkt schafft auch weniger Arbeitsplätze als seine nordeuropäischen Gegenstücke: Nach der großen Rezession erholte sich die US-Beschäftigungsquote langsamer als z.B. in Großbritannien oder Deutschland. Und den USA fehlt die aktivierende Arbeitsmarktpolitik, die europäischen Regierungen bieten, um Arbeitslose umzuschulen und ihnen bei der Suche nach verfügbaren Arbeitsplätzen zu helfen.

Ein durchschlagender Sieg für Joe Biden bei den Präsidentschaftswahlen im November könnte ihm das Mandat erteilen, die Gesundheitsversorgung armer und kranker Amerikaner zu verbessern und die Unterstützung für Arbeitslose zu stärken, was die USA den europäischen Normen näher brächte. Aber die Republikanische Partei wird alles tun, um ein solches Bestreben zur verstärkten Risikoteilung zwischen US-Bürgern zu vereiteln.

Die Europäer sollten jedoch nicht unbesorgt auf die Herausforderungen blicken, denen sie gegenüberstehen. Die europäische Reaktion auf die Krise hat zweifellos die Vorteile gut finanzierter Staaten und ein hohes Maß an Risikoteilung innerhalb der Länder gezeigt. Aber Europa hat in den zehn Jahren seit der Eurokrise unter schwacher Nachfrage gelitten, was darauf zurückzuführen ist, dass nicht genügend Risikoteilung zwischen den Ländern stattgefunden hat: Aufgrund der hohen Staatsverschuldung im Süden sind die Regierungen weniger in der Lage, Unternehmen und Arbeitnehmer während der Pandemie zu unterstützen, als es die deutsche Regierung ist.

Der EU-Wiederaufbaufonds, der am 24 Juli nach vier Tagen langwieriger Verhandlungen beschlossen wurde, ist ein willkommener Schritt in Richtung einer stärkeren Risikoteilung zwischen den EU-Volkswirtschaften. Er ist jedoch klein und zeitlich begrenzt. Die Transfers zwischen den Mitgliedstaaten belaufen sich auf 2,8 Prozent des jährlichen BIP. Vorausgesetzt die Pandemie endet schnell, kann dies dazu beitragen zu verhindern, dass die Schulden Südeuropas die Erholung der Arbeitskraftnachfrage bremst. Mit fortschreitendem `social distancing´ würden jedoch die Verschuldung des privaten und öffentlichen Sektors sowie die Arbeitslosigkeit weiter steigen. Die makroökonomische Risikoteilung der Eurozone wäre dafür nicht ausreichend – außer über die Europäische Zentralbank, deren Rolle bei der Niedrighaltung der Zinsen umstritten ist.

Wenn die Pandemie andauert, wird die Politik der USA und Europas weiterhin von ihren jeweiligen föderalen Schwächen dominiert. Vor COVID-19 waren beide politischen Systeme nicht in der Lage, der föderalen Regierungsebene mehr Macht zu verleihen, obwohl dies auf beiden Seiten des Atlantiks sinnvoll gewesen wäre. Welche Seite sich dazu als fähiger erweist, mit der Zustimmung von WählerInnen, wird im kommenden Jahrzehnt das stabilere Gemeinwesen .